Dieser Artikel befasst sich mit der Frage, warum Digitalisierungsprojekte ohne konkrete Zielsetzungen häufig scheitern. Der Autor argumentiert, dass viele Digitalisierungsvorhaben als "Selbstzweck" durchgeführt werden, ohne klare oder realistische Ziele zu verfolgen. Er betont, dass jede Digitalisierung einen konkreten Anlass und daraus abgeleitete Ziele haben sollte, wie z.B. die Verbesserung der Qualität, Effizienz oder die Entlastung von Mitarbeitern. Der Artikel warnt vor unrealistischen Zielen wie kurzfristigen Kosten- oder Personaleinsparungen und erklärt, warum diese oft nicht erreicht werden. Stattdessen wird die Steigerung der Prozessqualität als ein realistischeres Ziel genannt. Abschliessend wird hervorgehoben, dass vor Beginn eines Digitalisierungsprojekts der Anlass und die realistischen Ziele klar definiert werden müssen.
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Im Zusammenhang mit vielen Digitalisierungsprojekten gewinnt man den Eindruck, dass die Einführung digitaler Werkzeuge und Prozesse ohne konkretes Ziel, oftmals gar als „Selbstzweck“ erfolgt. Um so grösser ist hinterher die Ernüchterung, wenn festgestellt wird, dass das Vorhaben gar nicht die erhofften Verbesserungen bringt und Dinge nur zusätzlich verkompliziert, was sich mitunter auch negativ auf Kosten und die wahrgenommene Qualität der digitalisierten Prozesse auswirken kann. In einigen Projekten ist zwar ein grundsätzliches Ziel vorhanden, wird aber bei der konkreten Ausgestaltung des digitalen Prozesses aus den Augen verloren, ist von vorneherein unrealistisch oder der digitale Prozess wird nicht zielführend umgesetzt.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Fragestellung, weshalb Digitalisierung ohne konkrete Zielsetzungen zum Scheitern verurteilt ist und gibt Hinweise, wie man bei der Wahl eines konkreten Ziels vorgehen kann, um ein optimales Ergebnis zu erreichen.
Digitalisierungsvorhaben ohne konkretes, realistisches Ziel können getrost als „Digitalisierung als Selbstzweck“ bezeichnet werden – ein Effekt, der insbesondere im Rahmen der Einführung von KI-Unterstützung derzeit häufig beobachtet werden kann. Hersteller digitaler Systeme versprechen vielfach einen nicht näher definierten „Effizienzvorteil“, ohne dabei konkret auf die erzielbaren Vorteile einzugehen, und der allgemein wahrgenommene Druck durch den Digitalisierungs-Trend verleitet viele Organisationen dazu, fast schon krampfhaft nach Digitalisierungsmöglichkeiten zu suchen, obwohl hierfür möglicherweise gar kein Anlass besteht.
Ich erinnere mich an einen Kunden, der ein grösseres, über mehrere Standorte verteiltes Regionalbus-Unternehmen betrieb. In diesem Unternehmen wurden Kundenreklamationen („der Bus kam zu spät“, „der Bus ist an meiner Haltestelle durchgefahren“, „der Fahrer war unfreundlich“) direkt vor Ort in den jeweils zuständigen Dependancen behandelt, jeder Vorfall wurde handschriftlich in einem Protokoll vermerkt und die Beschwerdeführer erhielten in aller Regel binnen weniger Stunden eine Antwort auf ihre Reklamation. Irgendwann kam man auf die Idee, die Reklamationsbearbeitung in die Zentrale zu verlagern; Beschwerden sollten in den lokalen Niederlassungen nur noch aufgenommen und in ein eigens für diesen Zweck entwickeltes, digitales Werkzeug eingetragen werden, damit sodann in der Zentrale (in der man von den lokalen Gegebenheiten keinerlei Ahnung hatte) eine Entscheidung über Stattgabe oder Zurückweisung der Reklamation gefällt werden konnte. Dieses Werkzeug funktionierte aber nicht wie geplant, so dass zusätzlich durch die zuständigen Sachbearbeiter ein Formular händisch ausgefüllt und per Fax an die Zentrale gesendet werden musste. Das gesamte Unterfangen resultierte darin, dass die aufnehmenden Sachbearbeiter nun doppelte Arbeit hatten (Eintrag in das nicht funktionierende Digitalwerkzeug und Ausfüllen eines handschriftlichen Formulars), die betroffenen Kunden mitunter erst nach mehreren Wochen Antwort erhielten (die Zentrale kam mit der Reklamationsbearbeitung nicht hinterher) und unbefriedigende Antworten erhielten (da sich die Zentrale mit den lokalen Gegebenheiten nicht auskannte).
Diese Geschichte stellt ein typisches Beispiel für ein vollkommen fehlgeschlagenes Digitalisierungsprojekt dar, bei dem praktisch alle Aspekte gelungener Digitalisierung (die in den kommenden Artikeln noch näher beleuchtet werden) ausser Acht gelassen wurden. Hinzu kommt, dass grundsätzlich gar kein Bedarf an der Digitalisierung der Reklamationsbearbeitung bestand, da der bestehende Prozess einwandfrei funktionierte. Es mag zwar bestimmte, legitime Ziele in diesem Projekt gegeben haben (beispielsweise eine Auswertungsmöglichkeit der Reklamationen), diese wurden von den verantwortlichen Stellen jedoch nie kommuniziert, so dass hier von einer Digitalisierung als Selbstzweck ausgegangen werden kann.
Der beschriebene Vorfall, der sich schon vor über 20 Jahren, bevor der Begriff „Digitalisierung“ überhaupt allgemein bekannt war, zugetragen hat, hat mich im Übrigen dazu bewegt, mich eingehender mit den Hintergründen digitaler Geschäftsprozesse und deren Gestaltung zu befassen.
Prozesse aller Art, seien es herkömmliche analoge Geschäftsprozesse oder durchdigitalisierte, hochmoderne Prozesse, sollten gemäss dem Motto „never change a winning team“ grundsätzlich nur dann modifiziert werden, wenn es einen konkreten Anlass dafür gibt, da sonst Risiken wie im oben beschriebenen Beispiel fast sicher eintreten – ganz abgesehen davon, dass die Umstellung eines Prozesses anfangs immer mit einem Produktivitätsverlust verbunden ist (die Prozessbeteiligten müssen sich auf die neuen Gegebenheiten einstellen, was eine Umgewöhnungszeit erfordert). Anlässe zur Änderung eines Prozesses können ganz unterschiedlicher Natur sein – oftmals soll die Qualität des Prozessergebnisses verbessert werden, es soll effizienter oder umweltfreundlicher gearbeitet werden, Prozessbeteiligte sollen von unangenehmen oder wiederkehrenden Aufgaben entlastet werden, und nicht zuletzt wird auch die Hoffnung auf Kosteneinsparungen als Anlass zur Änderung oder Digitalisierung eines Prozesses genannt.
Aus diesen Anlässen ergeben sich unmittelbar die Ziele, die durch die Prozessänderung (auch die Umstellung eines manuellen Geschäftsprozesses auf einen digitalen Geschäftsprozess stellt eine Prozessänderung in diesem Sinne dar) erreicht werden sollen. Diese sollten möglichst frühzeitig an alle Beteiligten (Prozessentwickler, Software-Entwickler, Prozessbeteiligte) kommuniziert werden, um eine Akzeptanz für die Prozessänderung zu erreichen – nur wenn die Betroffenen die Notwendigkeiten und Vorzüge des geänderten Prozesses verstehen, können sie diesen optimal planen und umsetzen. Auch der Einbezug der Prozessbeteiligten bei der Planung macht in vielen Fällen Sinn, da diejenigen, die täglich mit dem Prozess arbeiten, in aller Regel ein besseres Verständnis für den Prozess und die Anforderungen daran mitbringen. Eine Änderung, die den Betroffenen wie im vorgenannten Beispiel „von oben herab“ vor die Nase gesetzt und aufgezwungen wird, führt in aller Regel dazu, dass der Prozess nicht akzeptiert wird, was in direkter Folge Unzufriedenheit und eine nicht optimale Umsetzung nach sich zieht.
Besonders wichtig in jedem Digitalisierungsvorhaben ist, dass die Ziele, die festgelegt werden, auch realistisch sind – will meinen, dass sie tatsächlich durch das Vorhaben erreichbar sind. Sehr häufig werden Kosten- und Personaleinsparungen als primäres Ziel von Digitalisierungsvorhaben genannt, meiner Erfahrung nach werden diese aber zumindest kurz- und mittelfristig in aller Regel nicht erreicht.
Insbesondere Kosteneinsparungen sind zumindest kurzfristig nie zu erwarten, da durch das Digitalisierungsvorhaben selbst in aller Regel zunächst erhebliche Investitionen (Planung der Prozesse, Beschaffung von Software und ggf. Infrastruktur, Einführung der Prozesse) erforderlich werden. Auch nach der Einführung entstehen mitunter nicht zu vernachlässigende laufende Kosten zur Wartung der Software-Werkzeuge und der erforderlichen IT-Infrastruktur und zur kontinuierlichen Weiterentwicklung der eingeführten Prozesse und Werkzeuge.
Auch Einsparungen im Personalbereich (d.h. eine Reduktion der Anzahl am digitalen Prozess beteiligten Personen gegenüber der Anzahl der am vorherigen manuellen Prozess beteiligten Personen) werden in der Regel trotz möglicher Effizienzsteigerungen zunächst nicht erzielt – den Grund hierfür erörterte William Stanley Jevons bereits im Jahr 1865 im nach ihm benannten Jevons-Paradoxon [William Stanley Jevons, The Coal Question, 1865, S. 141 f.]. Durch die Steigerung der Effizienz eines Prozesses entsteht automatisch eine erhöhte Nachfrage, der den initial erwarteten, geringeren Ressourcenverbrauch des Prozesses wieder egalisiert.
Ein typisches Beispiel aus der Digitalisierung wäre hierfür zum Beispiel die Einführung einer Online-Bestellmöglichkeit – dadurch, dass man nicht zunächst umständlich ein Ladengeschäft aufsuchen muss, steigt die Bereitschaft, die entsprechenden Waren zu erwerben, einfach nur dadurch, dass der Erwerb nun deutlich einfacher ist. Der gleiche Effekt wird von Fachleuten im Übrigen auch im Rahmen der Einführung autonomer Fahrzeuge erwartet – dadurch, dass die Nutzung individueller Fortbewegungsmethoden einfacher wird (so ist z.B. kein Erwerb einer Fahrerlaubnis oder die Anschaffung eines eigenen Fahrzeugs mehr erforderlich), erwartet man nicht den häufig proklamierten Rückgang des individuellen Strassenverkehrs, sondern eine effektive Erhöhung desselben.
Dementsprechend ist im Zusammenhang mit der Einführung digitaler Prozesse nicht damit zu rechnen, dass man auf (personelle) Ressourcen verzichten kann – gleichzeitig erlaubt die ressourceneffizientere Verarbeitung in digitalen Prozessen aber einen höheren Durchsatz und somit ein Wachstum bei gleichbleibendem (oder geringer wachsendem) Ressourcenverbrauch, was insbesondere in Zeiten von Fachkräftemangel ein entscheidendes Argument für die Einführung digitaler Prozesse ist.
Ein erfahrungsgemäss vergleichsweise einfach zu erreichendes Ziel in Digitalisierungsvorhaben ist hingegen eine Steigerung der Qualität des Prozessergebnisses. Informationstechnische Systeme machen im Gegensatz zu menschlichen Mitarbeitenden in aller Regel keine Flüchtigkeitsfehler, sie ermüden nicht und halten sich exakt an die ihnen gegebenen Anweisungen. Dazu kommt, dass Software-Werkzeuge dazu in der Lage sind, die Konsistenz und Plausibilität verarbeiteter Daten automatisiert und schnell zu überprüfen und sicherzustellen, was in einem manuell ausgeführten Prozess mitunter sehr schwierig ist. Um das Ziel der Qualitätssteigerung zu erreichen, müssen jedoch gewisse Vorkehrungen getroffen werden, die in einem späteren Teil dieser Artikelreihe noch näher erläutert werden.
Kurz gesagt: Es macht keinen Sinn, einen Prozess zu digitalisieren, wenn kein konkreter Anlass besteht, der ein klares und realistisch erreichbares Ziel definiert. Um eine gelungene Digitalisierung durchzuführen, sollte man sich zunächst die Frage nach dem Grund dafür stellen – wenn dieser lautet „weil alles digitalisiert wird“, sollte man vielleicht lieber von diesem Vorhaben absehen. Anschliessend sollten anhand des Grundes die zu erreichenden Ziele definiert und geprüft werden, ob diese überhaupt realistisch erzielbar sind (hierbei können erfahrene Digitalisierungs-Berater unterstützen). Erst, wenn diese feststehen, sollte mit der konkreten Planung des digitalen Prozesses begonnen werden. Um die Aspekte ebendieser Planung wird es in den folgenden Teilen unserer Artikelreihe gehen – wir betrachten Voraussetzungen, typische Risiken, Vorgehensweisen und häufige Fehler, die es zu beachten gilt, um ein Digitalisierungsvorhaben optimal umzusetzen.
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